Erweiterung des
Schnellbahnnetzes
Vier Linienverlängerungen - Zwei
neue Citylinien
(aus "Die Fahrt",
Zeitschrift der BVG, Ausgabe 9/1929 vom 15. Mai)
Die Berliner Stadtverordnetenversammlung hat im April einer für die Verkehrsentwicklung besonders bedeutsamen Magistratsvorlage zugestimmt. In dieser Vorlage wurden einem ununterbrochenen Weiterbau des Berliner Schnellbahnnetzes während der nächsten vier Jahre der Weg geebnet. Eine Klarstellung war dringend geboten, weil die bisher schon bewilligten und im Bau befindlichen Schnellbahnlinien sich ihrem allmählichen Abschluss nähern. Schon im laufenden Jahre 1929 werden sechs Abschnitte betriebsfertig sein. Im Februar 1930 soll die wichtige Strecke Neanderstrasse - Gesundbrunnen dem Verkehr übergeben werden; daran schliesst sich (im) März die Linie Friedrichsfelde - Alexanderplatz und im April die Strecke Leinestraße - Hermannstraße. Es war klar, dass die Untergrundbahnbauten immer weiter eingeschränkt und im April nächsten Jahres zum Stillstand kommen müssten, wenn nicht rechtzeitig die Voraussetzungen für den Bau neuer Linien geschaffen worden wären. Eine solche Arbeitspause wäre ebenso für den Ausbau des Schnelllbahnnetzes wie in ihren Rückwirkungen auf den Arbeitsmarkt bedenklich gewesen. Werden doch augenblicklich beim Untergrundbahnbau 8.000 Arbeiter beschäftigt. Schon die Rücksicht auf den Arbeitsmarkt liess eine lückenlose Weiterarbeit geboten erscheinen. Dazu kam aber als ausschlaggebend die Erwägung, dass der Ausbau des Berliner Untergrundbahnnetzes unumgänglich erscheint, wenn die Verkehrseinrichtungen mit dem unaufhaltsam wachsenden Verkehr Schritt halten sollen.
Man muss berücksichtigen, dass Berlin im Jahre 1914, beim Beginn des Weltkriegs, auf dem Gebiet des Schnellbahnbaus gegenüber den anderen Weltstädten New York, London und Paris stark im Rückstande war. Aus der Vorkriegszeit stammen nur 37,8 Kilometer Schnellbahnen, währen damals schon Paris - von London und New York ganz zu schweigen - über rund 90 Kilometer verfügte. Durch den Krieg kam der Schnellbahnbau während der nächsten acht Jahre völlig zum Erliegen. Seit 1922 wurden die Arbeiten an den begonnenen Strecken wieder aufgenommen, zuerst aus Kapitalmangel recht bedächtig. Allmählich konnte das Tempo etwas beschleunigt werden, aber auch heute noch sind nur 59 Kilometer in Betrieb. Dieses Schnellbahnnetz wird sich bis zum April nächsten Jahres auf 81 Kilometer erhöhen. Soweit handelt es sich um Schnellbahnstrecken, die von den städtischen Körperschaften bereits bewilligt worden waren.
Was jetzt hinzukommt ist gleichfalls nicht überwältigend. Die vier neuen Streckenverlängerungen, und zwar vom Bahnhof Seestraße bis Scharnweberstraße, von Tempelhof-Südring bis zum Teltowkanal, vom Bahnhof an der Mühlenstraße bis zur Breiten Straße in Pankow und von der Thomasstraße in Neukölln bis zum Südring Hermannstraße machen insgesamt nur 6,3 Kilometer aus. Das ergibt mit den schon bewilligten Linien zusammen erst 87 Kilometer, also weniger als Paris schon vor dem Kriege hatte. Dabei darf nicht unbeachtet bleiben, dass die Pariser Untergrundbahn fast ausschliesslich innerhalb der "ceinture", der alten Umwallung, liegt, also nur ein verhältnismässig kleines Gebiet durchzieht, während die Aufgabe des Berliner Schnellbahnnetzes darin besteht, durch einen Ausbau der städtischen Verkehrsmittel die innere Stadt mit den Aussenbezirken immer enger zusammenzuschliessen. So bedeuten die jetzt bewilligten Verlängerungen der bestehenden Linien ein wichtiges Mittel der Gross-Berliner Vereinheitlichung. Wollen wir ein lebensfähiges und erweiterungsfähiges Gross-Berlin, wollen wir auch zu einer städtebaulichen Einheit kommen, dann müssen die Aussenbezirke noch stärker als bisher in das gesamte Berliner Verkehrsnetz einbezogen werden.
Das ist eine Seite der mit dem Schnellbahnbau
verbundenen Aufgaben. Die andere muss in der Notwendigkeit gefunden werden, den
Verkehr der inneren Stadt, der uns mehr und mehr über den Kopf wächst, durch
den Ausbau des Schnellbahnnetzes zu entlasten.
Dazu sollen zwei neue Citylinien dienen, von denen die eine vom Alexanderplatz
durch die Leipziger Straße über den Potsdamer Platz zum Kleistpark führen
soll, während die zweite vom Halleschen Tor gleichfalls über den Potsdamer
Platz zum Lehrter Bahnhof und weiter zum Kriminalgericht in Moabit in Aussicht
genommen ist.
Diese beiden Linien sind zweifellos notwendig, wenn die Innenstadt entlastet werden soll. Ehe sie indessen in Angriff genommen werden, muss eine Verständigung mit den Aufsichtsbehörden erfolgen. Ebenso sind Verhandlungen mit der Reichsbahn über die Gestaltung des Potsdamer Platzes notwendig. Das alles bedeutet eine sehr zeitraubende Vorbereitung. Das Vorgehen der BVG, dem sich die städtischen Körperschaften angeschlossen haben, ist deshalb so gedacht, dass im laufenden Jahre die vier Linienverlängerungen gebaut werden sollen, und dass sich im nächsten Jahre der Bau der unterdessen vorbereiteten Citylinien anschliessen soll.
Leider ist es mit der Beseitigung der heute noch bestehenden technischen Schwierigkeiten allein nicht getan. Nicht minder wichtig ist die Frage, in welcher Weise die sehr beträchtlichen Mittel, die zur Durchführung der Untergrundbahnbauten erforderlich sind, beschafft werden können. In dieser Beziehung ist jedoch bisher keine volle Klarheit erzielt worden.
(aus "Die Fahrt", Zeitschrift der BVG, Ausgabe 9/1929 vom 15. Mai 1929)
Was aus diesen kühnen Planungen wurde:
Es wurde damals mit sehr hohem Tempo an den U-Bahnstrecken gebaut. Die obige Schrift stammt von Mai 1929. Es war die Zeit des ungestümen Fortschritts, alles schien möglich. Wie oben beschrieben, sollte die Linie E nach Friedrichsfelde im März und die Strecke zur Hermannstraße im April 1930 fertig werden. Tatsächlich wurde die Erstgenannte erst im Dezember 1930 fertig. Die Hermannstraßen-Strecke stand unmittelbar vor Baubeginn. Man plante also eine Bauzeit dieser 700 Meter langen Strecke von nicht mal einem Jahr!
Im September 1929 war der berüchtigte "Schwarze Freitag" an denen die New Yorker Börsen zusammenbrachen. Dies hatte direkte Folgen für Deutschland und somit auch für die Stadt Berlin. Deutschland wurde in eine tiefe Wirtschafts- und Finanzkrise gestürzt. Die BVG und der Bau-Magistrat mussten sehr schnell erkennen, dass ihre Schnellbahnplanungen völlig überzogen und nicht finanzierbar waren: Im letzten Satz heißt es ja auch, dass die Finanzierung der Strecken noch nicht stand.
Die sechs im Bau befindlichen Strecken wurden bis Jahresende 1930 fertiggestellt, zwei Projekte wurden noch aufgenommen: Der Bau der Hermannstraßen-Strecke und der Bau der Müllerstraßen-Strecke zur Scharnweberstraße. An beiden Strecken begann man noch 1929 mit den Bauarbeiten. Noch im selben Jahr wurde das Müllerstraßen-Projekt abgebrochen, nachdem ein 400 Meter langer Rohbautunnel fertig war. Die Baukapazitäten wurden zur Friedrichsfelder U-Bahn verlegt, da man befürchtete, dass diese Linie erst im Frühjahr 1931 fertig werden würde, also ein Jahr später als vorgesehen. Auf diese Weise konnte die Strecke noch 1930 eröffnet werden. Das Müllerstraßen-Projekt konnte erst 1953 wieder aufgegriffen werden.
Auch in der Hermannstraße ging der Bau nur schleppend voran. Schließlich stellte man den Bau im Sommer 1931 unmittelbar vor Unterfahrung des Südrings ein. Man erkannte dass die Fertigstellung aufgrund der äusserst knappen Mittel der Stadt nicht mehr möglich war. Erst 1992 wurde die Fertigstellung dieser Strecke in die Wege geleitet.
Die anderen Streckenplanungen, insbesondere die neuen "Citylinien", sind reines Wunschdenken geblieben und zum Teil bis heute nicht gebaut worden.